ROCHUS AUST
PRE PANDEMICS

Recherche zu pandemietauglichen physischen Aufführungsformaten (Präsenzmöglichkeiten)
der Jahre 2001 bis 2020 (einschl. März/pre-lockdown)

pandemie-taugliche settings
Eine Formatsammlung

PANDEMIETAUGLICHE POSITIONIERUNG DER AKTEURE (1)
PANDEMIETAUGLICHE POSITIONIERUNG DER AKTEURE (2)

PANDEMIETAUGLICHKEIT VON VERKEHRSMITTELN (1)
PANDEMIETAUGLICHKEIT VON VERKEHRSMITTELN (2)

PANDEMIETAUGLICHKEIT VON SCHUTZMATERIALIEN

PANDEMIETAUGLICHKEIT VON INSTRUMENTEN


PANDEMIE WIE NOCH NIE

Ich kann nicht ernsthaft behaupten, dass ich mich jahrelang auf die aktuelle Pandemie vorbereitet hätte. Aber selbst ein kurzsichtiger Rückblick auf die letzten Jahrzehnte meiner künstlerischen Produktion gibt ein breites Panorama pandemie-tauglicher Projekte frei, das in seiner Dichte kaum so einfach zu erklären ist.
Ist es die religiös-mythische DNA meines Namenspatrons?*
Ist es das intuitiv-spirituelle Streben nach Gesundheit und damit die automatische Separation vom Publikum?
Oder ist es simpel der akustische Abstand, den man als Trompeter vom ersten Tag an mitübt?**

Vielleicht ist es noch vielviel einfacher? 'Is so' sagt man dem Kleinkind, wenn die Erklärungen ausgehen, zu kompliziert werden oder einfach nerven. Dabei könnte das Kind der Schlüssel sein, denn: wenn man wirklich spielen will, ist der Spielplatz schnell zu klein.

Den Konzertsaal zu verlassen, ist zwar zu allen Zeiten mit einem gewissen Kitzel*** genau so wie mit einer Portion Pragmatismus**** verbunden realisiert worden, diente aber überwiegend dem gehobenen Publikum nur der Selbstvergewisserung. Nämlich, dass die Rückkehr zum Gewohnten doch der eigentliche Genuss des Ausflugs sei.

Den weitestgehend standardisierten Kulturraum (sei es Konzertsaal, Museum, Sakralbau, Fernsehen oder Radio) in jüngerer vor-pandemischer Zeit zu meiden, war selbst in offenen Künstlerkreisen keine mehr als temporäre Option. Wie auch, wenn man das Repertoire nicht ändert, sondern lediglich versucht, es zu adaptieren? Wenn man nichtmal die Sitzordnung modifiziert, geschweige denn aufhebt.
Die schönste ölig-stinkende Industriehalle bleibt eben nur ölig-stinkende Industriehalle, wenn man sie zur exotischen Kulisse der mitgebrachten audio-visuellen Bühnenbilder degradiert. Kurzfristig hilft der Prosecco dabei natürlich enorm, zuendegedacht***** ist aber etwas ganz anderes.

Den Konzertsaal zu verlassen, heißt nicht nur der akustischen Komfortzone den Rücken zuzukehren, sondern auch dem strukturell-logistischen Förmchen zu entkommen, das die einen hinten und die anderen vorne sitzen lässt, was das Publikum zwar auf pietätvollen Abstand hält aber keineswegs vor dem Superspreader-Event geschlossener Räume schützt.
Denn die irrwitzige Individualität des Künstlers - schaffend oder interpretierend - sieht keineswegs die Individualität des Publikums vor. Im Gegenteil: größtmöglicher Gewinn lässt sich nur mit größtmöglicher und bequemer „Gemeinschaft“ erwirtschaften. Das Live-Erlebnis wird als Massenerlebnis propagiert. Das Einzelempfinden zahlt sich kaum aus, es sei denn in der Wertschöpfungskette von Devotionalien und Marketingprodukten von der CD bis zum T-Shirt.

Umso härter nun der Aufschlag auf den Boden der pandemischen Realität. Die gesamte kapital-kulturelle Struktur des zwanzigsten Jahrhunderts (bisher im einundzwanzigsten kaum angekommen), ist mit einem Mal in gefährliches Rutschen gekommen.
Das hätten sich nichtmal die Futuristen erträumen können und die waren bekanntlich nicht zimperlich mit Althergebrachtem.

Den Konzertsaal zu verlassen heißt in diesen Zeiten: Überleben. Denn in der Wagenburg nichts zu machen oder Nichts zu machen, sind zwar zwei unterschiedlich Ansätze, aber beide auch tödlich langweilige. Nur durch Veränderung gibt es Stabilität. Da sprechen wir von Live-Lösungen aber noch lange nicht von Inspiration. Nur der Austausch bringt Bewegung ins Spiel. Kultur ist gleich Menschlichkeit, Online leider nur Maschine.

Und dabei habe ich noch garnicht auf den Treppenwitz der Pandemie hingewiesen: An Dienstagen und Mittwochen, meist auch an Donnerstagen und Freitagen, vornehmlich vormittags gab es in den großen wie in den kleinen Museen dieser Erde kaum quantitativ relevante Publikumsmengen. Es war nicht selten, dass man sich zusammen mit einer einzigen - nahezu post-sowjetischen - Aufsicht im Raum befand und sich unter ihrem Blick zeitlos der Kunst hingeben konnte. Zusammen fühlte man sich als Teil einer Kabakov-Installation, dabei war es nur ein normaler Dienstagvormittag (oder eben Mittwoch...) in einer normalen Ausstellung.

Und weil ich den Montag fast unterschlagen hätte, wage ich kühn zu behaupten, dass wir das gesamte kultur-pandemische Experiment auf einen Schlag mit einem unverklärten Blick auf die Uhr hätten gütlich (und genüsslich) lösen können. Vorgemacht hatte es uns längst die sportkulturell-affine Kölner Einzelhandelskette und das schon weitaus früher: Öffnungszeiten von 7h bis 24h.

Aber diese Recherche ist nicht dafür da, die Krankheit zu heilen, sondern die Symptome zu behandeln, auch wenn es mitunter palliativ wirken mag. Deshalb kommen wir nun zu den schönsten und pragmatischsten stets künstlerischen Möglichkeiten, die uns schon lange vor der Pandemie vor diese geschützt hätten (vermessen betrachtet: haben).


Rochus Aust
im Spätherbst 2020


*Rochus von Montpellier (1295-1379), Pestheiliger
**der Trompeter ist bereits ohne einen Ton zu spielen schon zu laut
***Wasssermusik, HWV 348, 349 und 350 von Georg Friedrich Händel (1685-1759)
****Jagdquartett/Streichquartett B-Dur KV 458 von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
*****Richard Wagner hat in Bayreuth den weltweit saubersten Orchestergraben zuendegedacht und erschaffen (wenn man ausschließlich ans Publikum denkt). Dummerweise konnte er sich nicht zurückhalten, obendrauf einen Haufen Sänger:innen zu stellen, was pandemisch gesehen natürlich völliger Quatsch war.